April 2023: Grüns spanische Eier
Im Oktober 2002 wurden dem Museum für Naturkunde in Gera drei kleine Holzkästchen für dessen Sammlung übergeben. Der Inhalt: Eine Vielzahl baumwollener Kügelchen neben mit Bleistift handbeschriebenen Zettelchen; darauf Notizen wie „15. IV. 1936, Linares de Riofrío, H. Grün“. Nach genauerer Betrachtung handelte es sich um die schützende Umhüllung für 119 fachgerecht ausgeblasene Eier. Die Etiketten deuteten auf einen kleinen Ort in Spanien südlich von Salamanca in der autonomen Region Kastilien-León hin. Die Eier wurden zwischen 1936 und 1948 zusammengetragen; nur der Name „H. Grün“ war bis dahin im Museum unbekannt. So wurden die Vogeleier in die naturkundliche oologische Sammlung unter dem Namen „Eiersammlung Spanien“ eingegliedert.
In den Magazinschränken fand sich das Präparat eines Wasserpiepers (Anthus spinoletta) mit einem Originaletikett aus Linares de Riofrío, 1934, eingegliedert in der Vogelsammlung Berthold Schnappaufs (1907–1977, Gera-Langenberg). Der jedoch hatte Spanien niemals betreten. Es stellte sich die Frage, ob es damals Expeditionen oder Sammler gegeben hatte, welche immer wieder diesen Ort bereisten. Vor der Entwicklung des modernen Individualverkehrs und dem damit verbundenen Massentourismus dürften in den 1930er Jahren solche abseits gelegenen, kleinen Ortschaften kaum internationale Touristen beherbergt haben. Obendrein lag der spanische Bürgerkrieg in der Luft.
Jahre später konnten nach einigen Recherchen viele Fragen zur spanischen Eiersammlung gelöst werden. Der Sammler der Eier war Hermann Grün, er wurde 1892 in Rain am Lech in Bayern geboren und starb 1963 in Linares de Riofrío. Hatte dieser Ort 1940 noch ca. 1500 Einwohner, schrumpfte die Einwohnerzahl mit der Industrialisierung der Landwirtschaft ab den 1960ern, welche die Aufgabe vieler kleiner Bauernhöfe mit sich brachte, so dass dort heute nur noch ca. 950 Einwohner leben. Vor Hermann Grüns Tätigkeit konnte man diese Gegend zoologisch und botanisch gesehen als „Weißen Fleck“ betrachten. Darum waren naturkundliche Museen wie in Amsterdam, Bonn, Frankfurt am Main, Dresden, Stuttgart und München sehr an den von ihm angebotenen Fellen, Reptilien, wissenschaftlichen Vogelpräparaten und Eiern interessiert. Gesammelt wurde wahrscheinlich vor allem im Wald von Honfría westlich des Dorfes. Einen Monat vor seinem Tod bekam Hermann Grün Besuch von Dick Hillenius (1927–1987), einem niederländischen Dichter, Essayist und Reptilienforscher, der im Zoologischen Museum in Amsterdam arbeitete. Die Zeilen von Hillenius‘ Tagebuch erzählen viel von einem alten und kranken Mann mit stark geschwollenen Füßen und einer von seiner Pflege geplagten Ehefrau.
In der kleinen Kollektion, die dem Geraer Museum überlassen wurde, befinden sich unter anderem Eier von Ziegenmelker, Turteltaube, Zwergohreule, Steinkauz, Eichelhäher, Pirol, Amsel, Kleiber und Kernbeißer. Die Eierschalen wurden durch die schützende Verpackung in einem außergewöhnlich guten Zustand erhalten; kein Ei ist verschmutzt, nur wenige eingerissen – eine kostbare Sammlung aus einer anderen Zeit. Heute gelten die Färbungen und Größen der Eier von europäischen Vogelarten als weitgehend erforscht. Im Angesicht der Bestandsabnahmen und des Artenschwundes, vor denen auch die Vogelwelt nicht verschont wird, gibt es heute keinen Grund mehr, Vogelnester auszunehmen und mit jedem ausgeblasenen Ei die Populationen zusätzlich zu schwächen. Um dies zu untermauern, sind fast alle Vogelarten Europas inklusive ihrer Gelege vom Gesetz geschützt.